Wort des Erzbischofs: „WIR WOLLEN MEHR“
WIR WOLLEN MEHR
„Ich will mehr!“ Das sagen mir Jugendliche, wenn es um ihren Glauben geht. Sie erzählen, warum sie sich in der Kirche engagieren: Sie wollen mehr Gemeinschaft mit anderen jungen Menschen, die wie sie selbst auch glauben. Sie wollen mehr Unterstützung, Gott konkret im Leben entdecken zu können. Sie wollen mehr Liturgie, die sie emotional berührt. Junge Menschen wollen sich einsetzen für mehr Gerechtigkeit, mehr Beteiligung, mehr Nachhaltigkeit. Jugendliche suchen nach mehr Sinn, nach mehr Erfahrung, wie Gott das Leben verändern kann, nach mehr Glaubwürdigkeit ihrer Kirche.
Aber nicht nur junge Menschen wollen mehr. In allen Generationen gibt es diese Suche nach mehr: bei Familien, Singles, Berufstätigen, im Alter. Über alle Generationen hinweg verbindet uns dieser Durst nach mehr. Diese Sehnsucht. Diese Erwartung. Das ist Advent: erwartungsvolle Suche nach Jesus Christus!
Doch ein Faktencheck zeigt etwas anderes. Man sehnt sich nach „mehr“, erlebt aber „weniger“: immer weniger, die den Glauben mit uns teilen; immer weniger, die sich engagieren; immer weniger Hauptberufliche; immer weniger Präsenz; immer weniger Gottesdienstbesuche; immer weniger junge Menschen. Das hat Folgen: Die einen sagen „Weiter so“. Die anderen sind frustriert. Wieder andere sehen, was sich ändern muss, sind aber verunsichert.
Das kann ich gut verstehen. Auch ich denke oft: Wie gelingt es, dass die bevorstehenden Veränderungen in unserem Erzbistum tatsächlich zu einem guten Weg in die Zukunft werden? Mich treibt die Frage um: Was ist unsere Aufgabe heute, damit unsere Kinder und Enkelkinder und die Menschen späterer Jahrzehnte unser Erzbistum Paderborn als eine lebendige Ortskirche erleben? Welche Weichen müssen wir deshalb heute dafür stellen? Wir brauchen ein gemeinsames Bild, eine Vision davon, wohin wir uns entwickeln wollen. Daran werden wir in den nächsten Monaten auf allen Ebenen konkret arbeiten müssen.
Die Grenzen der neuen Seelsorgeräume werden im Frühjahr festgelegt. Danach soll vor Ort mit möglichst vielen Engagierten gefragt werden: Wie wird sich das künftige kirchliche Leben konkret entwickeln? Wir springen nicht von heute auf morgen in die neue Wirklichkeit. Schon jetzt aber gibt die Vorstellung „Es wird immer weniger!“ den Ton an. Das provoziert Verlustängste. Wenn die Angst vor dem „Weniger“ dominiert, wird Zukunft nicht gelingen. Ich möchte Sie ermutigen: Suchen wir bewusst nach „Mehr“! Im Weniger kann ein Mehr entdeckt werden!
Das ist für mich weder naives Mutmachwort noch Durchhalteparole! Ich will mehr als nur „kirchliche Organisationsentwicklung“. Ich will mit Ihnen einen geistlichen Weg gehen. Ich frage mich: Wie sieht eine geistliche Grundhaltung aus, in der wir diese Veränderungen anpacken sollen? Ich glaube: Jetzt ist es Zeit, sich in der Jüngerschaft Jesu neu rufen zu lassen. Die Aufgaben früherer Generationen waren andere als die unserer Generation heute. Die Sendung bleibt die gleiche. Die Bibel erzählt davon, dass Gott sein Volk immer und immer wieder von Neuem ruft.
Petrus ist für mich dafür ein faszinierendes Beispiel. Am See von Genezareth geht er seinem Alltag nach (Mt 4,18–22). Jesus kommt vorbei, ruft ihn: Petrus lässt sich treffen. Er erkennt, dass da etwas Größeres ist, für das es sich lohnt, Gewohntes zu verlassen – für „mehr“!
Eine weitere Szene: Jesus kommt über das Wasser (Mt 14,22–33). Petrus steigt aus dem Boot. Immer wenn er nur auf das Wasser und nur auf sich selbst schaut, bekommt er Angst. Jesus sagt: „Du Zauderer! Vertrau doch, dass du durch mich Möglichkeiten hast, die du aus dir selbst heraus nie hättest!“ Gott hat mehr Möglichkeiten, als wir uns selbst zutrauen.
Besonders berührt mich die Szene am See von Tiberias (Joh 21,1–23): Nacht, leere Netze, Erfolglosigkeit. Ein Mann ruft: „Probiert es noch einmal – aber auf neue, andere Art und Weise.“ Die Jünger werfen das Netz auf der anderen Seite aus, und es füllt sich. Petrus erkennt Jesus, springt ins Wasser. Am Ufer bereitet Jesus das Mahl. Dreimal fragt er: „Liebst du mich?“ Dreimal antwortet Petrus: „Ja.“ Dreimal sagt Jesus: „Weide meine Schafe!“ – ein neuer Ruf. Das meint: „Lass dich rufen – in einer neuen Weise auf einen neuen Weg!“
Dann der Satz Jesu: „Früher konntest du dich selbst gürten… heute gürtet dich ein anderer und du wirst auf Wegen geführt, die du selbst nicht gesucht hast.“ Vielleicht ist das auch unsere Situation: In einer geistlichen Haltung so miteinander im Gespräch sein, dass wir fragen: „Was ist der Weg, den du, Gott, mit uns, deiner Kirche, vorhast?“ – dann werden wir vielleicht auf Wegen geführt, die wir so von uns aus nicht wählen würden, die aber ein Weg in die Zukunft sind.
Was brauchen Sie, liebe Schwestern und Brüder, um so miteinander im Gespräch zu sein, dass wir fragen können: „Wohin willst du uns führen, Jesus?“ Wir können voneinander lernen. Keiner muss das Rad neu erfinden.
Nicht „mehr oder weniger“, sondern „weniger und mehr“.
Jesus folgen heißt, sich neu rufen zu lassen: nicht „Was will ich?“, sondern „Was willst du, Herr?“
Unsere Aufgabe als Kirche ist es, so nah bei den Menschen zu sein, dass wir – wo immer es möglich ist – Gott ins Spiel bringen können: den Gott Jesu Christi, seine Vision vom Reich Gottes, sein Evangelium. Was also dient in Zukunft – je mehr – dieser Vision vom Reich Gottes? Wie werden wir missionarischer, und wie kommt heute durch uns Gott – je mehr – ins Spiel?
Vor Ort soll von dieser Vision her ein konkretes Bild des kirchlichen Lebens entstehen. Ich gebe Ihnen hier Leitgedanken mit auf den Weg:
- Wir werden an weniger Orten Eucharistie feiern, dafür mit mehr Möglichkeiten, Eucharistie als „Kristallisations- und Höhepunkt“ zu gestalten: mehr geistliche Strahlkraft, mehr Qualität, mehr Feierlichkeit, mehr Mitfeiernde, mehr musikalische Möglichkeiten, mehr liturgische Dienste.
- Dafür braucht es mehr Vielfalt anderer gottesdienstlicher Feiern – nicht als „Ersatz“, sondern als Ausdruck des Reichtums unserer Kirche.
- Weniger kirchliche Einrichtungen – aber mehr Einbindung in ein Gesamtkonzept von Pastoral. Weniger Einrichtungen können mit mehr Ressourcen besser profilierte Orte kirchlichen Lebens sein.
- Weniger Hauptberufliche – dafür aber mehr Fokus. Nicht mehr alle müssen für alles da sein; arbeitsteilige Konzentration und Vertiefung werden möglich. Dafür braucht es ehrlichen Respekt für unterschiedliche Charismen, endlich stärkere Vernetzung als bisher und geteilte Verantwortung auf allen Ebenen: weniger Einzelkämpfer, mehr Dienstgemeinschaft.
- Möglicherweise weniger Ehrenamtliche – aber mehr Charismenorientierung und neue Formen des Ehrenamts, mehr eigenverantwortliche Gestaltungsmöglichkeiten, professionelle Unterstützung und administrative Entlastung für das Ehrenamt.
- Weniger institutionalisierte Angebote – aber mehr missionarische Initiativen: kleine, lebendige Zellen vor Ort nah am konkreten Leben
- Weniger Ressourcen, die Dinge werden einfacher sein müssen – dafür aber mehr Freiheit, Dinge auszuprobieren.
- Wenige räumliche Nähe, aber hoffentlich mehr personale Nähe und Beziehung der Getauften untereinander, auch durch die Art und Weise unserer Sprache und die Themen in unserer Verkündigung. Wir wollen uns nicht mit der „kleinen Herde“ zufriedengeben, wir wollen mehr Menschen erreichen in aller Freiheit, wie sie sich dann zu uns verhalten.
- Weniger Gebäude – doch Raum bleibt wichtig. Die verbleibenden Gebäude sollen mehr, intensiver und vielfältiger genutzt werden. Welche Rolle spielen Kirchen als Identitätsmarker – besonders im ländlichen Raum? Wie gelingt vielfältige Nutzung ohne Verlust des Sakralen? Ein aktuelles Projekt zeigt Wege: Ein über hundert Jahre alter Kirchenraum wird verkleinert, bleibt aber liturgisch erhalten, während im Kirchenraum zugleich neue Nutzungsräume entstehen. Bestehendes verkleinern, Neues ermöglichen – ein Bild für unsere künftigen Seelsorgeräume.
Glauben – gemeinsam – gestalten.
Wir wollen uns nicht lähmen lassen vom „weniger“. Suchen wir das Mehr: mehr Glauben, mehr Nähe, mehr missionarische Dynamik, mehr Lebendigkeit. Jesus ruft uns wie Petrus am See von Tiberias. Ich will vertrauen: Auch heute wird dieser Jesus uns als Kirche von Paderborn einen Weg bereiten und eine Zukunft geben. Wir müssen uns nur rufen lassen. Folge mir nach! Glauben – gemeinsam – gestalten. Nicht weniger, sondern immer mehr!
Udo Markus Bentz
Erzbischof von Paderborn